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Schnitt für Schnitt

Vor einigen Monaten, als die Landesgrenzen fast geschlossen waren, zog Johanna Weis, die aus Baden-Württemberg stammt und in vielen Teilen der Welt gelebt hat, aus der Schweiz nach Berlin um, und liess sich im Bayerischen Viertel nieder. Als Begleiter glaubte ich, alle Straßen und Plätze trügen die Namen Bayerischer Städte wie Regensburg oder Bamberg, aber sie zeigte mir, daß es gar nicht immer der Fall ist. Wie auch immer, jetzt hat sie ein Atelier des Nordens – wie Vincent van Gogh mit Paul Gauguin ein Atelier des Südens gründen wollte, der selber sich ein Atelier der Tropen wünschte. Johannas Atelier des Nordens befindet sich zwar im Süden Berlins, auf dem Teltower Damm, aber das großzügige Licht fällt da aus dem Norden, wie es sich für ein Künstleratelier gehört.

Mit Johanna Weis sind viele ihrer Werke umgezogen, unter anderem Scherenschnitte und gemalte Plexiglasplatten. Ein sich in Bearbeitung findender Scherenschnitt wurde in Berlin vervollständigt, und es folgten bald neue, hier entstandene Bilder. Die Plexiglasplatten sind wie von der Architektur befreite Glasfenster und erinnern auch an Hinterglasmalereien. Unter ihren Farben findet sich Blattgold, was sicher damit zu tun hat, daß die Künstlerin früher Restauratorin war und die Vergoldung von Bilderrahmen und polychromen Objekten behandelte.

Dass die erste Berliner Ausstellung von Johanna Weis in der Kleinen Galerie von Kathy Winkelmann stattfindet, entspricht ihren Scherenschnitten besonders gut, da Haar- und Scherenschnitt ja verwandt sind. Beide finden per via di levare statt, indem ein Teil des behandelten Materials – hier Haar, da Papier – geschnitten und entfernt wird. Das von Johanna bevorzugte Werkzeug, das Skalpell, gehört freilich nicht zum Instrumentarium der Friseurkunst und steht näher zur medizinischen Forschung, ihrer ersten beruflichen Tätigkeit. Weitere Unterschiede kann man als Parellelen deuten. Das menschliche Haar erneuert sich von selbst, autopoietisch, was aus dem Haarschneiden eine Sisyphusarbeit macht. Wenn der Haarschnitt bloß aufgefrischt werden muss, geht es darum, wie bei den Büschen eines Topiary das Zugewachsene zurückzuschneiden, um die unerkennbar gewordene Form wiederherzustellen. Anders beim schwarzen Schneidpapier, aus dem die Künstlerin, wie wenn es ein Kaffeesatz wäre und sie eine Wahrsagerin, immer neue Gestalten extrahiert. Das Blatt ist ihr ein Steinbruch, und ihre wachsende Vertrautheit mit diesem Material hat sie ermuntert, ungewöhnlich große Formate anzugehen. Im Gegensatz zu richtigen Steinbrüchen – und Köpfen – erscheint ein Papierblatt als flach, aber Johannas Skalpell entdeckt in dieser Fläche unbekannte Tiefen und Schichten.

Manche Kundinnen und Kunden möchten in Ruhe gelassen werden, während man ihr Haar schneidet, aber meistens ist das Gespräch Voraussetzung und Bestandteil des gelungenen Haarschnitts. Die angedeuteten Figuren und Erzählungen, welche Johannas Skalpell aus dem Papier hervorruft, mit ihren instabilen Wesen, changierenden Größen und unbestimmten gegenseitigen Beziehungen, entspringen ebenfalls einem Dialog mit dem Gesehenen, Gehörten, Gedachten und Geträumten. Diese Gestalten leben von der Wahrnehmung und man muss sie sich aneignen, in dem man durch diese vielschichtigen Flächen spazieren geht. In dieser pandemischen Zeit kann leider keine Vernissage stattfinden, aber zum Besuch wird herzlich eingeladen.

(Text zur Austellung in Friseurstudio & Kleine Galerie "Haar Couture", Bamberger Str. 41, 10779 Berlin, 2020-2021)

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